Aus: Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart, hrsg. v. R. Schnell, Stuttgart-Weimar 2000, S. 129-131

 

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Esoterik, urspr. eine Geheimlehre, die als innerer Kern der Religion und Philosophie galt. Esoterische Lehren werden nur im Verborgenen übertragen (»Einweihung«) oder in geheimen Gesellschaften tradiert. In neuerer Zeit ist E. allerdings der Name für eine bunte Fülle von Methoden und Anschauungen geworden, die den Charakter einer Geheimlehre völlig verloren hat und ein nicht unbedeutender Wirtschaftsfaktor geworden ist.

Die Logik der E. ist einfach zu beschreiben: Während die Wissenschaften zwischen den verschiedenen Phänomenen nur jene Formen der Ursache-Wirkungsbeziehung akzeptieren, die letztlich auf physikalische Gesetze reduzierbar sind, ist in der E. jede Form der Kausalität erlaubt: Sterne wirken ebenso auf die Seele wie Blütenblätter, Töne oder Edelsteine. Alle Phänomene können in magischer Entsprechung stehen. Ferner unterstellt man geheime Ursachen (wie Erdstrahlen, kosmische Felder, UFOs, Körperenergien etc.), deren exakte Wirkung aber oft nur »Eingeweihten« bekannt ist.

Esoterische Lehren im urspr.en Sinn waren die griechischen Mysterienkulte, die auch die Philosophie vielfältig beeinflußt haben. Riten und Lehren sind nur bruchstückhaft überliefert. Im siebten Brief unterscheidet Platon eine innere (esoterische) und eine äußere Lehre. Damit hatte er das Modell aller künftigen Geheimlehren formuliert. Man kann die frühen Formen der E. weitgehend platonischem und neuplatonischem Gedankengut zuordnen; auch das Corpus hermeticum, das nur eine kryptische Form der platonischen Lehre von der Seele enthält. Was unter dem Namen »Geheimlehren der Ägypter« oder »Geheimnisse der Pythagoräer« später in Umlauf kam, speiste sich fast ausschließlich aus den Schriften Platons und des Neuplatonismus, so auch »Über die Geheimlehren« (peri mysterion) von Jamblichus (gest. 330 n. Chr.). Charakteristisch für diese E. ist die Übernahme der plotinschen Emanationslehre des Göttlichen, das sich in mehren Stufen bis zum Reich der Materie entfaltet. Verschiedene Lehren knüpften daran den Gedanken einer Umkehrung, eines Aufstiegs zur Gottheit, in Geheimgesellschaften vielfach verkörpert als Hierarchie der Einweihungsstufen.

Einen wichtigen Einfluß auf esoterische Lehren gewann auch die Gnosis, die urchristliche Lehren mit dem Neuplatonismus und der Astrologie verband. Die Gnosis, bereits von der frühen christlichen Kirche heftig bekämpft, war in den verschiedenen Ketzerbewegungen des Mittelalters ein stets fortwirkender Strom an esoterischem Gedankengut. (Der Name »Ketzer« ist eine Ableitung von »Katharer«, die Reinen, eine seit dem11. Jh. verbreitete Religionsform im Süden Frankreichs und in Italien.) Diese Bewegungen hatten auch Einfluß auf die Reformation in ihren verschiedenen Formen. Für die E. gewann vor allem die Gesellschaft der Rosenkreuzer in ihren Manifesten eine besondere Bedeutung, eine Form »esoterischen Christentums« (Fama Fraternitatis 1614; Chymische Hochzeit 1616).

Die moderne E. hat ihren Ursprung nur teilweise in dieser älteren Tradition. Man kann drei weitere Einflüsse der modernen E. unterscheiden. Erstens ist die Geheimwissenschaft des 19. Jahrhunderts unverkennbar eine konservative Reaktion auf die Lehren der Französischen Revolution. Zweitens versuchte man gegen den Monismus der Physik ein eigenständiges geistiges Reich mit wissenschaftlichen Methoden nachzuweisen (»Geheimwissenschaft«, »okkulte Wissenschaft«, »Spiritualismus«). Eine Fülle von Untersuchungen des Spuk-Phänomens und anderer, heute mit dem Terminus »Psi« bezeichneter Phänomene haben hier ihren Ursprung. Drittens gewannen die neuen Übersetzungen buddhistischer und hinduistischer Texte einen Einfluß. Die zentrale Figur für eine eklektische Synthese dieser Quellen war die Mitbegründerin der Theosophischen Gesellschaft Helena Petrowna Blavatsky, bekannt geworden durch ihre Hauptwerke Isis Unveiled (1877) und The Secret Doctrin (1888). Deutlich beeinflußt war sie hierbei von Eliphas Lévi, der die jüdische Ge­heimlehre (Kabbala) mit der Tarot-Karten-Symbolik zu einer »weißen« Magie verknüpfte. Ein Kernsatz aus Isis Unveiled mit Modellcharakter für die E. lautet: »Moderne Forscher mögen dies bezweifeln und diese Behauptung verwerfen. - Sie können sie aber nicht als falsch erweisen.« Erst durch die Parapsychologie hat sich die E. den methodischen Prinzipien moderner Wissenschaften unterworfen. Die von H. P. Blavatsky und H. S. Olcott 1875 gegründete »Theosophische Gesellschaft« erwies sich für die E. der Gegenwart als wichtigster Impulsgeber. Von der Theosophie beeinflußt ist auch die Anthroposophie Rudolf Steiners, der eine »Geheimwissenschaft« entwickelte, die sich aber nicht mehr als verborgenes Wissen begreift, sondern als »offenbares Geheimnis«.

Die zeitgenössische E. vereinigt in sich diese und weitere Quellen. Besonderen Einfluß gewann hierbei die in den USA entstandene Bewegung des New Age. Die Anhänger des New Age gehen von einer universellen Spiritualität aus, die oft eine große Nähe zu verschiedenen Formen der ökologischen Bewegung zeigt. Die Erde erscheint als spirituelle Größe (Gaia-Hypothese), die durch den Rückgriff auf (angebliche) keltische, germanische oder indianische Rituale immer wieder versöhnt werden muß, um menschliche Zerstörung zu heilen. Die universelle Verbundenheit allen Lebens erscheint in der New-Age-Bewegung auch in der Übernahme der theosophischen Lehre von der Vergeltung der Taten (Karma) und einer stufenweisen Höherentwicklung des Menschen durch aufeinanderfolgende Reinkarnationen. Vorgeblich früherer Leben vergewissert man sich dabei durch »Rückführungen« unter Hypnose. Die Wiederbelebung von Naturheilverfahren und »geistigen« Heilmethoden ist ein weiterer Ausdruck des ganzheitlichen (holistischen) Weltbildes der zeitgenössischen E. Die Grenzen zwischen alternativer Medizin, Psychotherapie und E. sind hierbei häufig unscharf.

Charakteristisch für die neue Form der E. ist auch die gesuchte Nähe zu den Naturwissenschaften, vor allem zu Ökologie, Systemtheorie, Chaostheorie und Quantenphysik. Fritjof Capra, selbst Kernphysiker, sieht auffallende Ähnlichkeiten zwischen moderner Physik und hinduistischen oder buddhistischen Lehren, ein Hinweis auf ein sich abzeichnendes neues Paradigma für Natur und Gesellschaft (Wendezeit 1984). Der Biologe Rupert Sheldrake entwickelte eine neue Theorie »morphogenetischer Felder«, die der Natur ein Gedächtnis und die Ausbildung von Gewohnheiten zuschreibt. Esoteriker greifen auf diese Theorie zurück, um die Wirkung magischer Praktiken oder von Fernheilungen ­zu erklären.

Eine weitere Einflußgröße auf die moderne E. ist die Technik. Die ursprünglich für therapeutische Zwecke verwendeten Biofeedback-Geräte wurden zu vielfältigen Mind Machines weiterentwickelt: Durch elektrische, optische oder akustische Reize soll hierbei ein Zustand höherer Gehirntätigkeit induziert werden, der das, was in spirituellen Traditionen durch Meditationspraxis erreicht wird, technisch substituiert. Auch die Astrologie wurde durch Computer-Programme zur automatisierten Erstellung eines Horoskops auf völlig neue Weise populär. Individuelle Horoskope können – wie auch Antworten des chinesischen Orakels I Ging – aus dem Internet tagesaktuell geladen werden.

Die nach dem Zweiten Weltkrieg (nach einem angeblichen Absturz eines außerirdischen Flugzeugs 1947 bei Roswell in New Mexico, USA) einsetzende UFO-Euphorie ist ein untrennbarer Bestandteil der modernen Esoterik. Die Verknüpfung mit traditionellen Denkmodellen gelingt durch die von Erich von Däniken formulierte These (Zurück zu den Sternen 1968), die alten Mythen über Götter seien eigentlich hilflose Versuche, den Besuch der Bewohner anderer Sternsysteme auf der Erde zu beschreiben. Angebliche UFO-Sichtungen, Entführungen und Botschaften von Außerirdischen werden zu einem wichtigen Ideengeber der zeitgenössischen Populärkultur. Neue Theorien der Hochenergiephysik nähren diesbezügliche Spekulationen (schwar­ze Löcher, parallele Universen, Fernwirkungen ohne Zeit, Superstrings usw.) und verwandeln Naturwissenschaftler immer häufiger in Kultfiguren der E.

Die Verdammung der E. durch Wissenschaft und Theologie verkennt, daß die Grenze zur E. sich oft verschoben hat. Die negative Definition von E. als Nicht-Wissenschaft wandelt sich mit der  Wissenschaft selbst. Von kirchlichen Sinn-Angeboten unterscheidet sich die E. häufig nur durch ein anderes Marketing. »Sekte« ist eine Invektive, kein Funktionsbegriff. Wichtige wissenschaftliche und psychologische Konzepte verdanken sich der alten E. (Alchemie-Chemie, Astrologie-Astronomie, Hypnose-Tiefenpsychologie etc). So kann man in der E. ein kreatives Experimentierfeld des Denkens sehen, das frei vom Methodenzwang neben Kuriositäten auch wertvolle Neuerungen hervorgebracht oder angeregt hat.

                                                                                                           

Lit: W. F. Bonin, Lexikon der Parapsychologie (1976). - H. E. Miers, Lexikon des Geheimwissens (1993). - F. Capra, Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild (1984)

 

K.-H. B.

(Karl-Heinz Brodbeck)