Das Interview wurde am 17. Dezember 2000 geführt und erschien redigiert unter dem Titel „H. Sowa, Achtsamkeit auf die Achtsamkeit. Karl-Heinz Brodbecks Theorie der Kreativität – ein Gespräch“ in Kunst+Unterricht Heft 216, April 2002, S. 50-54

 

Kreativität und Kunst

(unredigierte Fassung)

Ein Gespräch mit Karl-Heinz Brodbeck
Die Fragen stellte: Hubert Sowa

 

1. Frage: Die Diskussion um „Kreativität“ nimmt in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung. Dahinter steckt nicht bloße theoretische oder spekulative Neugier, sondern es geht hier auch um die Qualität und Nutzbarkeit einer offenbar sehr wichtigen menschlichen Ressource für volkswirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Zwecke. Sie lehren Volkswirtschaft an einer Fachhochschule für Betriebswirtschaft in Würzburg. Was hat Sie in diesem Zusammenhang bewogen, ein Buch über Kreativität[1] zu schreiben und wie unterscheidet es sich Ihrer Meinung nach vom Mainstream empirisch-psychologischer Forschung?

Antwort: Die Entwürfe zu diesem Buch reichen sehr weit zurück. Ich habe mich schon sehr lange mit Innovationsprozessen beschäftigt und dies nie als eine rein ökonomische Fragestellung verstanden. Doch auch in der Psychologie entdeckte ich eine ökonomische Funktionalisierung. Die moderne Kreativitätspsychologie war zunächst eindeutig durch wirtschaftlich-politische Fragestellungen motiviert. Kreativität galt als Ressource im Kampf der Systeme zur Zeit des Kalten Krieges. Man hoffte, die menschliche Kreativität technisch beherrschen zu lernen. Ich möchte den Wert zahlreicher Studien keineswegs bestreiten. Doch der Versuch, Kreativität von außen steuern zu wollen, darf als grundlegend gescheitert gelten. Ich versuche, die menschliche Kreativität von ihrer Funktionalisierung zu befreien und sie als die offene Dimension menschlichen Handelns herauszuarbeiten.

2. Frage: Kreativität wird gängigerweise als Problemlösungsverfahren definiert und wird wesentlich mit Prinzipien der Produktivität und der technischen oder konzeptuellen Hervorbringung von Neuigkeit in Verbindung gebracht. Gerade der Geniebegriff in der Kunst ist ja dafür auch ein beliebtes Beispiel. Demgegenüber bringen Sie an zentraler Stelle den Begriff der „Achtsamkeit“ ins Spiel und geben der Idee der „Kreativität“ eher die Konnotation von „Wahrnehmung“, „Bewußtsein“. „Situativität“ und „Prozessualität“. Damit verschieben Sie die Aufmerksamkeit der Kreativitätstheorie im Prinzip vom technischen/künstlerischen/wissenschaftlichen Hervorbringen zu einer universellen lebenspraktischen Reflexivität, die sich in jedem Lebensaugenblick beweisen kann. Worin liegen die hauptsächlichen Gründe für diese Ihre Sichtweise?

Antwort: Sie liegen – als negative Erfahrung – zunächst darin, daß die Kreativitätstechniken nicht das halten, was sie versprechen. Wären sie effektiv, so würden sie von profitmaximierenden Unternehmen auch häufig eingesetzt. Das geschieht nicht. Darin zeigt sich ganz praktisch, daß der Versuch, Kreativität herstellen zu wollen, schlichtweg gescheitert ist. Der Wahrheitsbegriff der Moderne, Vicos verum-factum-Prinzip, der Gedanke also, daß nur wahr ist, was wir herstellen können, ist auf die menschliche Kreativität nicht anwendbar. Diese Einsicht liegt meinem Ansatz zugrunde, die Kreativität als situativen Prozeß zu beschreiben, in dem die Menschen nicht nur Dinge, sondern auch sich selbst verändern. Das, was man heute „Kreativität“ nennt, ist ein säkularisierter theologischer Begriff. Das Bewußtsein, hier einem Geheimnis gegenüberzustehen, ist verloren gegangen. „Achtsamkeit“ ist ein Begriff, in dem für mich zwei wesentliche Einflüsse zusammentreffen: Einmal die Phänomenologie, vor allem jene Heideggers, zum anderen der Begriff der Achtsamkeit (sati) als zentrale Lebenspraxis im Buddhismus. In der „Achtsamkeit“ liegt ebenso Bewußtheit wie das Achten-auf-etwas, den Lebewesen und Dingen ihre Würde lassen. Dieses Loslassen des Mitgebrachten, der Vor-Urteile und Ego-Grenzen ist der eigentliche Kern des kreativen Prozesses.

3. Frage: Ihr Buch ist ein sehr philosophisches Buch, möglicherweise könnte man sogar von einer spirituellen Grundtendenz sprechen. Sie bemühen sich, den Begriff der Kreativität von seiner „aggressiven“ neuzeitlichen und modernen Auslegung zu befreien und ihm eine eher „passive“ oder „gelassene“ Bedeutung zu verleihen. Diese Kehre im Verständnis von Kreativität hat sicher viel mit der heute zunehmenden Skepsis gegen überlebte wirtschaftliche und technische Entwicklungsmodelle zu tun und könnte mit einem neuen Verständnis von Wirtschaft und Kultur zusammenhängen. Wie verträgt sich das mit volkswirtschaftlichem und technischem Denken, oder anders gesagt: Ist so ein Konzept von Kreativität kulturell und wirtschaftlich zukunftsfähig?

Antwort: Ich würde genau umgekehrt sagen: Das gegenwärtig praktizierte Modell der Wirtschaft ist nicht zukunftsfähig. In meinem Buch „Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie“ habe ich das systematisch zu zeigen versucht. Wer Kritik übt, sollte sagen, wie man menschliches Handeln auslegen kann, ohne der destruktiven Macht eines blinden Wachstums zuzuarbeiten. Genau darin sehe ich meine Aufgabe. Ich bin überzeugt, daß die gegenwärtige Praxis der Menschen auf vielen Irrtümern beruht, und der wichtigste dieser Irrtümer ist die Selbstauslegung des Menschen als nutzenmaximierende, egoistische Maschine. In „Entscheidung zur Kreativität“ entwickle ich kein „Gegenmodell“, vielmehr möchte ich das situative Denken und Handeln so aufzeigen, wie es jeder selbst beobachten und erfahren kann – frei von Überlagerungen einer mechanischen Psychologie oder Ökonomie.

4. Frage:. Daran könnte sich die Frage anschließen: Ist die von Ihnen analysierte Kreativität eine volkswirtschaftliche Ressource?

Antwort: Die moderne Marktwirtschaft lebt aus zwei Hauptquellen: Der Ausbeutung der Natur und der Ausbeutung der menschlichen Kreativität. Gewiß, Kreativität ist eine volkswirtschaftliche Ressource. Was ich aber kritisiere, ist die Reduktion auf diese Rolle. Verwandelt man Kreativität nur noch in ein Mittel, so schränkt man sie zugleich ein. Es scheint mir ein falscher Weg zu sein, die eigene Kreativität nur im Beruf für fremde Ziele zu funktionalisieren. Das beschränkt, ökonomisch gesagt, auch das kreative Potential der Wirtschaft. Woher soll eigentlich eine Grenzen überschreitende Kreativität kommen, wenn wir nur für die möglichst rasche Einbindung in gegebene Grenzen (genau das ist „Praxisorientierung“) ausbilden? Die Märkte ersetzen erlernte Fertigkeiten sehr rasch durch neue. Wer sich hier nicht kreativ selbst verändern kann, der wird rasch zum Opfer. Eben deshalb, wenn ich das ergänzen darf, gilt diesem Zwang der Märkte meine Kritik in meinen Texten zur Ökonomie: Ich würde mir wünschen und möchte dazu beitragen, daß persönlich und sozial die Kreativität aus der Macht der Gewohnheit, aus der Fremdbestimmung durch Märkte herausgelöst wird.

5. Frage: Einen großen Raum nehmen in ihrer Theorie Überlegungen zur Kreativität der Wahrnehmung, des Körperbewußtseins und des sozialen Denkens ein. Es geht Ihnen ganz allgemein um den beweglichen und achtsamen Umgang mit Denkmustern. Damit korrigieren Sie die zu einseitige Vorstellung, Kreativität habe es immer oder primär mit dem Lösen von konkreten Probleme zu tun. Können Sie dies an einem Beispiel erläutern?

Antwort: Man denkt oft heimlich zwischen „Problem“ und „Lösung“ eine Hierarchie mit: Jemand stellt eine Aufgabe, ein anderer muß sie lösen. Man löst fremde Probleme, erhält Geld dafür und darf sich dann an fremden Produkten erfreuen. In dieser Struktur ist Kreativität als Selbsterfahrung und Selbstveränderung ausgeschlossen. Durch die Reduktion auf Fragen der Problemlösung im Denken wird in die Struktur der Kreativität eingeschränkt, die auf vielfache Weise hinderlich ist - übrigens, wie gesagt, auch in der Wirtschaft. Faßt man den Begriff „Problem“ dagegen weit genug - wie dies ja im Alltag geschieht -, so gibt es sehr viele „Probleme“, die gelöst werden - oder eben „Probleme“ bleiben. Wer seine Sitzhaltung vor dem PC ändern kann, bekommt weniger Rückenschmerzen; wer bemerkt, daß die Einteilung der Welt in die Begriffe „Software und Hardware“ ein zwar mögliches, aber doch sehr beschränktes Denkmuster ist, der erlangt eine kreative Freiheit im Denken, und wer entdeckt, wie er in Gesprächen auf bestimmte Wörter, Gesten oder den Tonfall mit bestimmten unbequemen Emotionen reagiert, für den ist es sehr hilfreich, diese mechanische Verkopplung von auslösendem Signal und Emotion zu durchschauen. Die Kreativität löst immer auch konkrete Probleme (auch ein Künstler steht unaufhörlich vor Problemen, die er lösen möchte: Welche Farbe? welches Material? wie viele bearbeitete Spuren bei einer Videoinstallation? etc.). Mir kommt es vor allem darauf an, daß die eigene Kreativität als Quelle für eigene Problemlösungen entdeckt wird - Künstler und Wissenschaftler haben für ihre Gebiete oft ihre eigenen Methoden entwickelt, aber jeder könnte ein „Künstler“ der eigenen Lebensgestaltung sein, wenn man seinen Mut zur eigenen Kreativität stärkt.

6. Frage: Sie holen Ihren Begriff der Kreativität aus dem engen Feld des „Denkens“ heraus und vernetzen ihn mit allen Sinnen und situativen Wahmehmungsweisen. Es gibt nach Ihrer Theorie eine Kreativität des Fühlens, Sehens, Sich-Bewegens usw... Das muss jeden, der mit dem Fach „Ästhetische Bildung“ zu tun hat, aufhorchen lassen. Können Sie uns ein Beispiel geben?

Antwort: Das ist richtig. Ich bin von der einfachen Frage ausgegangen: Worin ereignet oder zeigt sich eigentlich Kreativität? Ein kreativer Prozeß vollzieht sich nicht in einem leeren Raum des Denkens. Solch ein Prozeß ist immer situativ eingebettet. Zu einer kreativen Situation, ja zu jeder menschlichen Situation gehören bestimmte unablösbare Aspekte. Ich nenne sie „Modalitäten der kreativen Situation“. Wenn ein Komponist an einer Akkordfolge arbeitet, dann ist er körperlich ganz eingebunden: Sein Atem, seine Gefühle und Stimmungen, sicher auch die Klangbilder als innere Vorstellungen usw. Doch mir geht es darüber hinaus noch viel mehr darum, daß sich alle Aspekte einer Situation kreativ verändern lassen: Die Wahrnehmung, die Einbindung der Emotionen in das Erlebnis einer Situation, natürlich auch die kommunikativen Strukturen usw. Meist ist unsere Achtsamkeit nur auf einen situativen Aspekt gerichtet. Mir kommt es darauf an, die ganze Situation als offene Möglichkeit positiver Veränderung zu begreifen - und die Möglichkeit dazu liegt in der Weckung der Achtsamkeit auf bestimmte Aspekte. Man muß oft nur jemand auf etwas - eine Farbe, einen Klang, eine Bewegung  - hinweisen, und schon können völlig neue Erfahrungen gemacht werden.

7. Frage:. Das Fach Kunsterziehung oder Ästhetische Bildung sieht sich - nach einem bestimmten traditionellen Begründungsmuster - als Anwalt der Kreativität in der Schule. In der Einleitung zu Ihrem Buch schreiben Sie: „Kreativität ist weder dem Genie vorbehalten, noch kann man Kreativität technisch herstellen.“ Damit grenzen Sie sich einerseits von dem irrationalen Glauben an die schlichte „Gegebenheit“ genialer Begabung ab, andererseits von den technokratischen Vorstellungen von „Machbarkeit“, wie sie etwa den in der Managerschulung verbreiteten Trainingsverfahren für Kreativität zugrundeliegen. Dennoch haben Sie eine Art Lehr- und Übungsbuch geschaffen, das dem Leser helfen soll, „die eigene Kreativität zu entdecken“. Damit stellen Sie letztlich die Möglichkeit der Erfahrung eigener Kreativität für jedermann in Aussicht. Dahinter steckt offenbar eine bestimmte Idee von Bildung. Wo sehen Sie die Rechtfertigung, die Begründung und die Möglichkeiten für dieses Bildungskonzept und welche Rolle könnte hier ein fortentwickeltes Fach „Kunsterziehung“ spielen?

Antwort: Das sind natürlich sehr viele Frage auf einmal. Ich möchte nur ein paar Punkte betonen. Kreativität ist zunächst einfach die Fähigkeit, wertvolle Änderungen, Neuerungen hervorzubringen. Im kleinen Umfang ist jeder, auch ganz alltäglich, kreativ in diesem Sinn. Dieses Potential wird jedoch frühzeitig durch Regeln - die durchaus sinnvoll sein können und vielfach auch sind - in die Bahn der Gewohnheit gelenkt. Man verlernt ganz einfach einen spielerischen Umgang mit sich, mit seiner Umgebung, mit seinen Emotionen, Gedanken, man verlernt die Lust am Sehen, am Entdecken, am Hören. Jede Gewohnheit kann bewußt werden, wenn man darauf achtet, und dann ist sie auch wieder veränderbar. Die Achtsamkeit ist also der Schlüssel. Durch Routinen (die auch immer zum Erlernen von Fertigkeiten gehören - Mathematik erlernen heißt, Regeln zu erlernen) wird die Achtsamkeit funktionalisiert; sie wird zur Dienerin der Alltagsroutine. Unter „Bildung“ verstehe ich auch und vor allem die Vertrautheit mit der Erfahrung, daß man selbst Bildner sein kann, daß man selbst Fähigkeiten erwerben und verändern kann. Bei den formalisierten Fächern der Schulausbildung kann man zwar auch immer die mögliche Offenheit aller „Inhalte“ durch die Ausbildung von Kritikfähigkeit bewahren. Allzuleicht gleitet dies aber in Dialogformen ab, die nur feste Meinungen austauschen oder strittig konfrontieren. Nichts könnte von einem platonischen Dialog, der es erlaubt, Erfahrungen zu machen, weiter entfernt sein. Es ist deshalb notwendig, daß eine Tür zum je eigenen Erleben und seiner Veränderung, zur Wahrnehmung als Wahrnehmung offen gehalten wird. Und hierin sehe eine äußerst wichtige Aufgabe der Kunsterziehung.

8. Frage: In der Neuzeit und Moderne wird der Kunst eine Art Hegemonialanspruch in Sachen Kreativität eingeräumt, ja es herrscht geradezu eine fraglos hingenommene Ideologie der Kreativität und der Hervorbringung von Neuem, was in der „Avantgardekunst“ zu einem ins Leere laufenden selbstreferentiellen Innovationsdenken geführt hat. Wenn man Ihr Buch liest, könnte man auf die Idee kommen, dass es vielleicht längst nicht mehr die Kunst ist, die sich souverän gegenüber Denkmustern verhält, sondern dass im Bereich des meditativen „Psychotrainings“ und der achtsamen Lebenspraxis wesentlich kreativere Möglichkeiten liegen als in konventioneller künstlerisch-ästhetischer Praxis, gerade Möglichkeiten der „performativen“ Selbsttherapie und „Selbstbildung“. Trifft dieser Eindruck zu?

Antwort: Ja und nein. Ich versuche, das kreative Erleben in jenes Zentrum zurückzuführen, an dem die von Ihnen gemachte Unterscheidung zwischen Kunst als Archetypus der Kreativität und der Selbsterfahrung in der Psychotherapie verschwunden ist - und auch die Differenz zur Kreativität des Denkens (keineswegs nur in der Wissenschaft). Dieses Zentrum ist die Achtsamkeit. Ich frage weniger nach der sozial normierten Differenz zwischen alt und neu, sondern nach dem situativen Erleben, der Erfahrung dieser Differenz. Die Kunst gerät vielfach in das Fahrwasser der Ökonomie, die Neuheit mit öffentlichem (oder Markt-)Erfolg gleichsetzt. Tatsächlich waren aber alle großen Künstler immer auch große Schüler. Cézanne verbrachte viele Stunden im Louvre; andere machen wieder und wieder Studien der alten Meister; Komponisten vertiefen sich in die großen Werke der Klassik und jeder Wissenschaftler kennt die Literatur, die klassischen Experimente usw. Ich würde „Größe“ gerade dadurch kennzeichnen, daß das Alte neu eingeholt, wahrgenommen, erlebt wird. Diese Fähigkeit, etwas als es selbst erscheinen zu lassen, erwächst aus dem Aufwachen zur eigenen Achtsamkeit. Sie ist hierin dieselbe, gleichgültig ob sie sich auf eine Farbe, eine Struktur, einen Klang, einen Gedanken oder eine Emotion bezieht. Jeder Künstler entwirft sich selbst, wenn er ein Werk erschafft. Und jeder, der sich selbst erkennen möchte, wird sich eben durch diese Erkenntnis wandeln und neu „erschaffen“. Übrigens lehrt ein Lehrer zunächst und zuerst immer sich selbst, seine Persönlichkeit, seine Dynamik, die Atmosphäre, die er in einer Klasse schafft. Die vermittelten Inhalte werden zunächst immer diese situative Einbettung bewahren.

9. Frage: Da es sich hier um eine Fachzeitschrift für Kunsterziehung handelt, noch einmal zurück zur Kunst. Unter anderem erläutern Sie am Beispiel der Kunst Paul Cezannes sein kreatives Wahrnehmungs- und Abbild verfahren. Können Sie das an der vorliegenden Abbildung erklären? Eine sich daran anschließende Frage wäre: Worin läge denn die „Relevanz“ dieses Verfahrens über die Person Cézanne hinaus?

Antwort: Wenn man - um mit dem anderen Extrem zur Verdeutlichung anzufangen - ein Foto in einer Illustrierten betrachtet, so sagt solch ein Bild eigentlich immer überlaut und grell: „Ich“ („nimm mich“, „kauf mich“, „ergreife mich“). Leider gibt es auch viele „Kunstwerke“, die eben dies sagen. Es gibt ästhetische Theorien, die das sogar als Qualität preisen. Viele Kunstwerke der „Avantgarde“ sind eigentlich wie mittelmäßige Gitarristen einer Rockband: Grell gekleidet und geschminkt, schockierend laut oder süßlich; vor allem aber sagen sie nur unentwegt „Ich!“ Ganz anders bei Cézanne. Er vergleicht einmal seine Erfahrung bei Malen mit dem buddhistischen Konzept des Nirvana. „Nirvana“ ist eigentlich die Erfahrung der Welt ohne Ich-Zentrum. Betrachtet man Cézannes Zeichnungen oder seine Bilder, so zeigt sich darin zwar, daß sie gleichsam aus mehreren Perspektiven zugleich gemalt wurden - das ist als formale Feststellung durchaus richtig. Was aber nach meiner Auffassung Cézanne vor allem zeichnet oder malt ist das Hervortreten von Formen oder Farben, ohne sie zu ergreifen und festhalten zu wollen. Das Beleuchtungslicht war in der Malerei gleichsam der Schatten des Egos. Cézanne hat immer wieder gesagt und gezeigt, daß man Licht nicht malen kann. Das ist mehr als eine bloß maltechnische Bemerkung. Es ist die Einübung in eine Wahrnehmung ohne Funktionalisierung, ohne Zweck, ohne Ergreifen - kurz, eine Wahrnehmung ohne Ego. Es ist die reine Achtsamkeit, jene Offenheit, aus der alle Kreativität hervorgeht, mag sie sich situativ auch auf unterschiedliche Modalitäten beziehen (wie wahrgenommene Formen, Emotionen, Bewegungen, Gedanken usw.). Und dieses Aufwachen zur eigenen Achtsamkeit, zum offenen Raum, in dem Situationen erscheinen, ist für jeden möglich, sogar ohne Umschweife und ganz direkt.

10. Frage: Emanzipatorische bildungstheoretische Begründungen sollten es letztlich immer mit der Idee des geglückten oder glücklichen Lebens jedes Einzelnen zu tun haben. In welchem Zusammenhang sehen Sie Ihre Idee von Kreativität mit der Idee der Steigerung menschlicher Lebens- und Glücksfähigkeit?

Antwort: Ich möchte eigentlich nur an etwas erinnern, worüber jeder verfügt, was aber unter dem Schutt unnützer Gewohnheiten verborgen ist - übrigens auch schon bei ganz jungen Menschen, die zu sich selbst oft nur noch über extreme sinnliche Reize in Kontakt treten. Man kann die Achtsamkeit selbst erleben durch die Meditation über ein Bild, einen Klang, eine Stimmung. Die Achtsamkeit kann aber auch sehr dynamisch und bewegt sein, sie kann etwas hervorbringen. Glück liegt darin, sich selbst in der und als Achtsamkeit zu entdecken. Wir brauchen nicht den Umweg über die Güter, die Märkte, den äußeren Erfolg. Wer in etwas Be-Friedigung sucht, der will ja seine suchende Unruhe beenden und Frieden finden. Die einfache Wahrheit unserer Konsumhektik ist schlicht dies, daß wir unsere Wünsche loswerden wollen, weil sie uns beunruhigen, weil sie uns am Glück hindern. Die Wunscherfüllung, das Erreichen eines Zwecks ist nur deshalb „Glück“, weil die Unruhe der Suche beendet wird. Spirituelle Traditionen haben um dieses tiefe und doch einfache Geheimnis immer gewußt - ich vertrete also keineswegs eine „neue“ oder „originelle“ These. Das ist übrigens auch der schlichte Sinn und das schlichte Recht einer l´art pour l´art.

Die Sucht nach Neuem, womit Kreativität oft verwechselt wird, sagt uns etwas, wenn man nur genau hinschaut oder zuhört. Sie drückt eine tiefe Unzufriedenheit mit sich und der Welt aus. Doch anstatt innen zu suchen, vervielfacht man die äußere Suche - wozu Werbung, Politik und leider auch oft die Schule auffordern. Was fehlt, was unserer Ausbildung fehlt, ist das einfache Wissen, daß man draußen auf den Märkten nur das künftig Veraltete findet, das einen zum nächsten weitertreibt. Kunsterziehung ist gleichsam ein Medikament gegen diese Sucht, im Wecken der Wahrnehmungsfähigkeit zugleich sich selbst als jene Stille im Auge des Hurrikans zu entdecken, um den eine äußere, hektische und laute Suche kreist, ohne je anzukommen. Für jemand, der mit der eigenen Achtsamkeit vertraut geworden ist, verschwindet die Differenz zwischen aktivem Hervorbringen und passivem Wahrnehmen. Jede Wahrnehmung wird dann zum kreativen Akt, worin man sich selbst in anderem und im anderen findet.

 

 

 

 

 

© 2001 K.-H. Brodbeck

 

 



[1]Karl-Heinz Brodbeck, Entscheidung zur Kreativität, zweite Auflage, Darmstadt 1999.