Quelle: Lehren und Lernen als kreativer Dialog; Arbeitskreis Gymnasium und Wirtschaft (Hrsg.), Gute Einfälle machen Schule - Wissen und kreatives Denken, Abschlußdokumentation, München 1999, S. 5-20

 

 

Lehren und Lernen als kreativer Dia­log[1]

 

Karl-Heinz Brodbeck

 

 

Vorbemerkung

 

Lehren ist keine Einbahnstraße, in der Informationen vom Lehrer auf den Schüler übertragen werden. Die Inhalte des Lehrens sind Bedeutungen, und Bedeutung ist keine abspeicherbare Information. Sie lebt mit der Erfahrung und wird immer wieder neu an veränderte Situationen angepaßt. Lehrende und Lernende lassen in einer gemeinsamen Situation die Bedeutungsgehalte des Lehrstoffs entstehen. Für den Schüler ist der Lehrstoff neu, für den Lehrer ist die Situationen des Lernenden neu - und eine nützliche, wertvolle Neuerung hervorzubringen, das ist die Definition von Kreativität. Lehren und Lernen kann also als kreativer Dialog beschrieben werden. Die Lernsituation wird schrittweise so gestaltet und verändert, daß daraus ein doppeltes Verständnis erwächst: Das Verständnis des Schülers für den Stoff und das Verständnis des Lehrers für die gesamte Lernsituation.

Der nachfolgende Text stellt das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler schrittweise als kreativen Prozeß dar, in dem die Achtsamkeit auf die ganze Lernsituation Grundlage und Ausgangspunkt des Lehrens ist. Zur Lernsituation und ihrer kreativen Nutzung gehören zahlreiche Aspekte, die gewöhnlich ausgeblendet bleiben oder nur bei „Problemen“ hervortreten.

Zur gelungenen Lehre gehört die Achtsamkeit auf die Stimmungen und Emotionen in der Lerngruppe, die bewußte Wahrnehmung verschiedener Aspekte der Situation (nicht nur des „Lernstoffs“), die schrittweise Einübung von neuen Fertigkeiten durch die Nutzung und Modifikation von bereits bekannten „Mustern“ des Denkens und Wahrnehmens, last but not least die besondere Achtsamkeit auf die in der Lehre verwendeten Denkformen und -modelle. Dies läßt sich an einfachen Beispielen demonstrieren.

Der kreative Dialog in der Lehre umfaßt alle Aspekte der Lernsituation, keineswegs nur das Sprechen. Ein Lehrer kommuniziert in der Lehre auch sich selber, seine ganze Persönlichkeit, seine Bewegungen und (oft unbewußten) Sprachformen, und er kann vielfältige Informationen der Schüler als Ausgangspunkt nutzen, um adäquate Lernprozesse einzuleiten.

„Lehren und Lernen als kreativer Dialog“ bedeutet also, daß die Lernsituation auch bei „Standardinhalten“ als kreatives Produkt verstanden wird, bei dem nicht einfach eine Information ihren „Ort“ wechselt - aus dem Gehirn des Lehrers in das des Schülers -, sondern bei der sich mit den Lerninhalten die kreative Persönlichkeit der Schüler entfaltet. Der „maßgeschneiderte Experte“ für die aktuelle Nachfrage der Wirtschaft ist kein geeignetes Ziel. Auf die Herausforderungen einer Welt des endlosen Wandels kann es nur eine Antwort in der Lehre geben: Förderung der Kreativität als jener Fähigkeit, die Veränderungsprozesse ebensosehr einleitet wie auf sie zu reagieren erlaubt. Hierzu Hinweise und Hilfestellungen zu geben, ist die Absicht der nachfolgenden Überlegungen.

 

Weshalb brauchen wir eigentlich Lehrer?

 

Meinen Vortrag möchte ich mit einer provozierenden Frage beginnen: Weshalb kann man eigentlich Lehrer nicht durch Bücher, CD-Roms, Computer und das Internet ersetzen? Speichern Bücher nicht viel umfangreicheres Wissen, und sind nicht Computer oder das Internet inzwischen fähig, das Wissen multimedial, damit vielfältiger und interessanter zu präsentieren? Es gibt nicht wenige Stimmen, die diese Frage kurzerhand bejahen würden. Auch meine eigene Hochschule hat mit einer Internetvorlesung experimentiert - es war sogar die erste in Deutschland -, und ich habe dieses Experiment ausdrücklich unterstützt und gefördert. Dennoch würde ich es ebenso nachdrücklich ablehnen, die oben gestellte Frage zu bejahen - und das gewiß nicht aus sozialpolitischen Motiven, in der die angestammten Besitzstände von Lehrenden an Gymnasien oder Universitäten verteidigt werden.

Erlauben Sie mir, daß ich hierzu, in guter geistesgeschichtlicher Tradition, einen kurzen Blick zu den Alten zurückwerfe, genauer zu Platon. Platon wendet sich in seinem berühmten siebten Brief gegen das Lehren fertiger Ergebnisse. Er sagt, daß der Ort der Wahrheit nur im Gespräch zu finden sei. Man kann zwar sagen, so ergänzt er in seinem Dialog „Menon“, daß z.B. geometrische Wahrheiten unabhängig vom Gespräch bleiben. Dennoch ist das Lehrgespräch unerläßlich, diese Wahrheiten zu entdecken. Auch wenn uns geometrische Beweise durch Bilder, Skizzen im wörtlichen Sinn „einleuchten“, so bedürfen sie doch der hinführenden und erklärenden Sprache. „Denken“, sagt Platon an anderer Stelle, sei eigentlich nur „innerliches Sprechen“. Obwohl ich diese These, so scharf formuliert, nicht akzeptieren kann - ich würde wenigstens ein „auch“ einfügen -, weist sie doch auf einen ganz zentralen Gedanken hin, der auch diesem Vortrag zugrunde liegt: Menschliches Wissen ist durch die Sprache (und durch begleitende Kommunikationsprozesse) vermittelt. Wenn wir aber sprechen, wenn wir innerlich sprechen und auf diese Weise „Wissen verarbeiten“, dann erweisen wir uns als zutiefst soziale Wesen, denn „sprechen“ heißt „miteinander sprechen“. Das Denken simuliert im inneren Dialog ein soziales Verhältnis. Deshalb kann man das Denken nur im Gespräch erlernen, deshalb basiert alles Wissen auf dem Dialog.

Gewiß - ich beeile mich das hinzuzufügen - gibt es das Selbststudium. Man kann sich in Bücher, in eigene Gedanken oder auch ins Internet versenken und dabei zu wichtigen Einsichten gelangen. Doch das Selbststudium basiert auf der Fähigkeit, die Sprache und ihre Bedeutungen individuell aktualisieren zu können. Und der Grundstock dafür wird in Lernsituationen mit anderen erworben. Sicherlich nicht primär an Schulen oder Hochschulen - da würden wir unsere Profession als Lehrende doch deutlich überschätzen. Primär sind für das Erlernen von Sprache und Bedeutungen Situationen mit Eltern, Geschwistern, Freunden und - man mag das beklagen - mit elektronischen Medien. Ein Klassenzimmer (oder ein Hörsaal) stellt allerdings einen konzentrierten, auf das Lernen spezialisierten Ort dar, ein Ort, an dem eine sehr hohe Sensibilität und Achtsamkeit auf die Lernsituation vorherrschend - darf ich sagen „ist“? oder sollte ich besser formulieren „sein sollte“?

 

Besteht die Welt aus Informations-Bits?

 

Mit diesen einleitenden Bemerkungen kann ich zum Zentrum meiner Überlegung vordringen. Der Lehrer ist nicht durch Bücher, CD-Roms, Computer und das Internet ersetzbar, weil die Situation des Lernens nicht ersetzbar ist. Lernen ist kein technischer Vorgang der Informationsübertragung. Das Gehirn ist kein Computer, und die Sinnesorgane sind keine Geräte, mit denen man externe Daten kopieren kann. Diese Vorstellung, wiewohl immer noch weit verbreitet, diese Verwechslung von Lernen und Programmieren, beruht auf einem grundlegenden Mißverständnis. Wir können zwar Computer bauen und programmieren, aber wir sind keine Computer.[2]http://www.fh‑wuerzburg.de/fh/fb/bwl/Offiziel/BWT/pages/pp/2/brodbeck.htm.  Die umgebende Welt ist immer eine ausgelegte, interpretierte, schon auf gewisse Weise verstandene Welt. Man kann das sehr leicht verdeutlichen, und ich möchte dazu ein vielleicht etwas albernes Gedankenexperiment machen (wir wissen ja aus der Mnemonik, daß man sich gerade alberne Beispiele eher merkt): Stellen Sie sich bitte vor, wie Sie eine Tasse Tee oder Kaffee vor sich auf den Tisch stellen, daraus trinken, sie zurückstellen usw. Eine ganz einfache Handlung. Der Tisch ist ein Tisch, die Tasse ist eine Tasse, Milch ist Milch und Zucker ist Zucker. Die Philosophie bezeichnet diesen Sachverhalt durch den „Satz der Identität“. Dinge sind eben das, was sie sind. Punkt. Sind sie das wirklich? Machen Sie bitte mit mir das kleine Experiment: Schlüpfen wir in die Haut (oder den Chitin-Panzer) einer gewöhnlichen Stubenfliege, einer Musca domestica. Wir krabbeln den eben beschriebenen Tisch entlang, angelockt vom Duft des Zuckers auf dem Kaffeelöffel. Was werden wir als Fliege wohl wahrnehmen? Sehen wir eine Kaffeetasse, Untertasse, Löffel, genau unterschieden vom Tisch? Wohl kaum. Tasse und Untertasse erscheinen eher wie kleine Hügel - für uns Fliegen leicht zu überwindende Hindernisse -, allerdings Hügel, die köstliche Speisen verbergen. Die Musca domestica lebt also in einer völlig anderen Welt; einer Welt aus kleinen Hügeln und geheimnisvoll auftauchenden Köstlichkeiten. Eine Tasse ist in einer Fliegenwelt keine Tasse, und Zucker ist kein (für viele entbehrlicher) Stoff, Kaffee zu süßen.

Was zeigt uns diese Überlegung, dieses Gedankenexperiment? Es zeigt, daß die Welt nicht einfach aus klar definierten, mit sich identischen Gegenständen besteht, die gleichsam alle ein Namensschild tragen, das Adam ihnen in seligen Paradieszeiten auf Gottes Geheis hin verliehen hätte. Die Welt ist nicht, um einen Gedanken des Philosophen Richard Rorty aufzugreifen, „sprachförmig“. Sie besteht nicht aus wohlunterschiedenen, definierten Informationspaketen. Die Welt ist offen, offen für Auslegung, Interpretation, Sichtweisen usw. Gewiß, es wird gemeinsame Strukturen geben, die auch wir mit einer Stubenfliege in unserem Weltbild teilen - sonst könnten wir einer Fliege gar nicht in derselben Welt begegnen. Doch worin diese gemeinsamen Strukturen bestehen, das festzulegen dürfte nicht ganz einfach sein. Die Fensterscheibe, für uns eine Lichtquelle und Blicköffnung nach draußen, ist für die Fliege ein unsichtbares Gefängnis.

 

Lernen heißt, etwas über die Welt zu erfahren, heißt, Interpretationen der Welt kennenzulernen. Der Ort, wo uns beides, die Welt und die Gedanken über die Welt, begegnen, das ist die „Situation“. Wir sind immer in Situationen; die Existenzphilosophen definieren damit sogar das Wesen des Menschen; ich denke zurecht. Wenn wir über das Lehren und Lernen also etwas mehr erfahren wollen, müssen wir die gemeinsame Situation von Lehrer und Schüler, der Schüler untereinander, die Einbettung dieser Situation in andere studieren. Diese Lernsituation und das darin liegende kreative Potential möchte ich nun etwas näher betrachten.

 

Was ist das: Eine Situation?

 

Ich stelle zuerst eine ganz einfache Frage: Wie betreten wir eigentlich Situationen? Man sagt: „Ich bin in diese Situation hineingeraten“. Doch wie geschieht das? Ich weiß, diese Frage mag etwas seltsam klingen, und sie ist auch seltsam, wie alle Fragen, die mit dem Finger auf das zeigen, was wir zwar gewohnt sind, aber gerade deshalb nicht beachten. Man könnte sagen, daß wir einfach mit unserem Körper in einem Raum sind - doch das wäre ein gründliches Mißverständnis dessen, was „Situation“ heißt. Wir sind in einer Situation mit all unseren Sinnen da: Wir fühlen etwas, spüren die Atmosphäre, die Stimmung in diesem Raum, wir achten wahrnehmend auf dies oder das, wir bewegen uns vielfältig, durch unseren Atem, unsere Gedanken (all das sind Bewegungsmuster), und wir können in der Vorstellung diese Situation auch ganz verlassen (und uns z.B. unseren Arbeitstisch zuhause vorstellen oder an einen Konzertbesuch einige Tage zuvor erinnern). In einer Situation zu sein - das heißt auf vielfältige Weise dazusein. In einer Situation sind wir ebenso in unserem Körper, wie wir in unseren Gefühlen und Emotionen oder in unseren Gedanken gefangen sind, und in dieser vielfältigen Weise dazusein begegnen wir anderen Menschen, begegnen sich Lehrer und Schüler.

Ich habe ein Modell der Situation entwickelt, das zum Verständnis vielleicht hilfreich sein kann (vgl. die nachfolgende Abbildung).[3] Dieses Modell beruht auf fünf Modalitäten der Situation. Eine Modalität ist die Art und Weise, wie etwas gegeben ist, wie etwas erlebt wird. Modalitäten sind keine Dinge, keine Bausteine oder Elemente; man kann daraus nichts „herstellen“. Es sind Wegweiser für die Achtsamkeit in einer Situation - und ein „Modell“ ist hier einfach eine Hilfe, sich nicht von der Dynamik der Situation wegtragen zu lassen, sondern diese Dynamik verstehen und selbst lenken zu können. Wir sprechen also über „Elemente“ eines Prozesses, eines kreativen Prozesses.

Wir neigen dazu, Situationen vielfach sehr abstrakt, begrifflich zu interpretieren. Meist geschieht dies durch das (eben schon erwähnte) „innerliche Sprechen“, den inneren Dialog, der sich wie ein endloser Dauerkommentar vor unsere sinnliche Wahrnehmung schiebt und sie in Begriffe einteilt. Die Funktion dieses inneren Dialogs ist sicher hilfreich und unentbehrlich für Handlungen und Pläne; seine implizit mitgelieferte Weltinterpretation ist aber auch sehr oft ein Hemmnis.

Betrachten wir solch eine Interpretation - es handelt sich um eine häufig zu hörende Zustandsbeschreibung der Situation im Unterricht -, um anschließend an diesem Beispiel die Funktionsweise des Modells der kreativen Situation zu demonstrieren. Jemand sagt (laut oder zu sich selber): „Die Schüler zeigen an diesem Thema einfach kein Interesse.“ Ein alltäglicher Satz, vielleicht oft gedacht - und dennoch, ein höchst abstrakter, unklarer Satz. Der große Hypnotherapeut Milton Erickson benutzte abstrakte Denkmuster, um Patienten ganz sanft in Trance zu versetzen. „Trance“ heißt, daß die Achtsamkeit abgelenkt wird; wir wenden uns ab von den Sinnen und kehren ein in eine innere Welt der Gefühle und Gedanken. Mit abstrakten Sätzen und Interpretationen kann man diese Wirkung leicht erzeugen. Das ist keineswegs nur negativ gemeint: Wenn man es schafft, z. B. in Geschichte einen Stoff sehr lebendig werden zu lassen, dann gehen Schüler in eine innere Welt der Bilder und Gefühle. Dasselbe gilt beim konzentrierten Lösen von Aufgaben in der Mathematik oder in anderen Fächern. Für den Lehrer, die Lehrerin selbst ist es aber ratsam, achtsam und präsent zu bleiben.

Ein Lehrer sollte mit Veränderungen der Achtsamkeit bei sich und anderen (seinen Schülern) vertraut sein. Wenn wir eine Situation mit dem Gedanken interpretieren: „Die Schüler zeigen an diesem Thema einfach kein Interesse“, dann sind wir selbst in eine kleine Trance geraten. Weshalb? Warum ist dieser Satz ungeeignet zur Beschreibung der Situation? Stellen wir einfach genaue Fragen. Sind tatsächlich alle Schüler an dem Thema desinteressiert? Wie zeigt sich das Interesse - oder das Desinteresse? Woran genau erkennen wir es? Was meinen wir eigentlich mit „Thema“? - diese Fragen lassen sich fortsetzen. Durch diese präzisen Fragen lenken wir die Achtsamkeit auf alle Aspekte der Situation, die in dem abstrakten Satz „Die Schüler zeigen an diesem Thema einfach kein Interesse“ verborgen sind.

 

Um rascher zu sehen, worauf wir achten müssen, kann das obige Modell hilfreich sein. Es kann wie eine Art „Check-Liste“ verwendet werden.

(1) Wir bekommen in jeder Situation zuerst eine Fülle von Informationen über unsere Sinne: Wir sehen und hören die Schüler; die Luft im Raum riecht frisch, stickig oder einfach nur nach Kreide, wir hören die Geräusche oder Stimmen der Schüler, halten einen Stift oder eine Folie in der Hand, drücken auf die Tasten eines PC usw. Das heißt: Wir sind durch unsere fünf Sinne bei jeweils spezifischen Sinnesgegenständen. Die Achtsamkeit wandert zwischen diesen fünf Sinnesgegenständen hin und her. Das ist die erste Modalität einer Situation: die Sinnesgegenstände.

(2) Als zweite situative Modalität können wir Stimmungen und Gefühle betrachten. Während man Sinnesgegenstände auch objektiv beobachten kann, ist das bei Stimmungen und Gefühlen nicht möglich; man muß sie schon selber spüren. Der Nachteil: Gefühle sind „privat“, wir können nicht fühlen wie unsere Schüler. Allerdings gibt es auch hier eine „objektive Seite“. Auf einen solch objektiven Aspekt haben zuerst die Existenzphilosophen hingewiesen: Es sind die situativen Stimmungen. Stimmungen haben nicht nur privaten Charakter (obgleich man fühlend daran teilnimmt). Stimmungen bemerkt man als typisches Kennzeichen in Situationen: Man betritt eine Wohnung, ein Lokal, ein Klassenzimmer - und sofort bemerkt man darin eine gewisse Atmosphäre, eben eine vorherrschende Stimmung. Ich versuche gar nicht, das durch Tausende feiner Interaktionen über die Sinne zu erklären; es genügt, wenn wir diesen Aspekt jeder Situation kennen. Wichtig an Stimmungen ist die Beobachtung, daß sie sich meist sehr träge und langsam verändern - das gilt für Gruppen ebenso wie für Einzelpersonen. Allerdings gibt es auch unvorhersehbare Stimmungsumschwünge, ausgelöst von Kleinigkeiten: Eine achtsame, konzentrierte Atmosphäre schlägt durch den Knall eines Überschallflugzeugs plötzlich in Unruhe, in Geflüster um. Hier kommt es mir nur darauf an, diese Modalität jeder Situation als unablösbares Element bewußt zu machen. (Ein anderer objektiver Aspekt der zweiten situativen Modalität ist eher geläufig: Man kann Gefühle auch an der Mimik, der Gestik, der Atmung, der Gesichtsfarbe, der Stimmlage usw. erkennen - ich kann diesen Punkt hier jedoch nicht vertiefen.)[4]

(3) Der dritte wichtige Aspekt in jeder Situation ist die Bewegung der Achtsamkeit in den Modalitäten. Wir nennen das „Wahrnehmung“. Die Wahrnehmung können wir teilweise selbst durch achtsame Veränderung steuern (wir blicken z. B. bewußt auf diese oder jene Buchseite, hören bewußt auf das, was jemand sagt), teilweise hängt die Achtsamkeit auch von dem ab, was sich sinnlich aufdrängt. Die Wahrnehmung schwankt gleichsam zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Lenken und Gelenktwerden. Wir können aber den aktiven Aspekt unserer Achtsamkeit „ergreifen“, ihn bewußt nutzen. Darin liegt der Schlüssel, in einer Situation die „Führung“ über den dynamischen Prozeß zu übernehmen. Ich kehre dazu gleich noch einmal zurück anhand des oben erwähnten Beispiels.

(4) Die vierte Modalität von Situationen hat auch einen dynamischen Charakter: Es handelt sich um die Bewegungsmuster. Während in der Wahrnehmung die Achtsamkeit zwischen Aktivität und Passivität hin- und herpendelt, gilt für Bewegungsmuster ein Schwanken zwischen Bewußtheit und unbewußtem Prozeß. Auch hier kann wiederum die Achtsamkeit steuernd, lenkend eingreifen - oder aber in einer abgelenkten Trance verbleiben. Das einfachste Beispiel ist die Atmung. Meist ist diese Bewegung völlig unbewußt, beim Sport oder - wie jetzt durch diesen Text - durch expliziten Hinweis kann man aber auch darauf achten und die Atmung verändern. Dasselbe gilt für andere Bewegungsmuster, z. B. Gestiken während des Sprechens, die Bewegung der Augen eines Schülers, während er uns zuhört usw. Die Kunst einer kreativen Lehre besteht darin, möglichst viele dieser Bewegungsmuster zu kennen und entsprechend darauf reagieren zu können. Das gilt vor allem für die letzte Gruppe situativer Modalitäten: die Denkprozesse.

(5) Auch Denkprozesse sind immer Bewegungen. Es gibt keinen statischen Gedanken, man muß dabei immer etwas tun. Oft gilt aber auch, daß nicht wir achtsam denken, sondern daß wir gedacht werden. Die Fähigkeit, die Kontrolle über das Denken bei Bedarf abgeben zu können, ist sehr wichtig. Anders wären wir gar nicht in der Lage, zuzuhören. Denn wenn wir einen Text wie diesen hier lesen oder einer Rede zuhören, dann überlassen wir der Bewegung der lesenden Augen und den nachfolgenden Prozessen das Steuerruder: Wir wollen den Sinn in uns durch das Lesen oder Hören in seiner Bedeutungsvielfalt erfassen. Dazu tun wir nichts aktiv, wir überlassen es dem Text, diese Bedeutung in uns zu erzeugen. Diese Fähigkeit des Zuhörenkönnens (oder der stillen Konzentration beim Lesen) ist aber nur ein Aspekt der Bewegungsmuster beim Denken. Während beim Lesen die ruhende, statische Form eines Textes (wie diese Druckbuchstaben hier) in uns und durch uns selber, durch das Lesen in eine Bewegung verwandelt wird, können wir beim Sprechen oder beim Nachdenken selbst solche Sätze erzeugen. Hier gilt aber, daß wir mit unserer Achtsamkeit meist nicht bei den Sätzen, sondern bei einem vorgestellten Inhalt bleiben. Wir wollen etwas sagen, das wir innerlich oder äußerlich sehen, das wir vielleicht fühlen. Während wir etwas sagen, achten wir nicht primär auf die Wahl unserer Worte (außer, wir spielen gerne mit wohlklingenden Formulieren). Der Vorgang des Sprechens, das Bewegungsmuster der Sprache, bleibt fast unbewußt. Gewiß, man kann durch Grammatik und Logik einige allgemeine Strukturen entdecken und die Achtsamkeit genau darauf lenken; doch das sind dann besondere Situationen, keineswegs der Regelfall.

 

Situative Prozesse in der Lehre

 

Ich kehre nun nochmals zum erwähnten Beispiel, der Beschreibung einer typischen Situation im Unterricht, zurück: „Die Schüler zeigen an diesem Thema einfach kein Interesse“. Wenn wir diesen Satz in eine ganze Situation übersetzen, dann sehen wir, wie sehr er eigentlich nicht nur eine Vergröberung darstellt, sondern obendrein uns daran hindert, tatsächlich zu sehen, was geschieht. Ich will das etwas verdeutlichen und die Bemerkungen aus Gründen der Übersichtlichkeit numerieren.

Erstens zeigt dieser Satz, daß derjenige, der ihn als Interpretation einer Lehrsituation denkt, offenbar seine Achtsamkeit nur auf die halbe Situation gerichtet hat: Er hat sich selber ausgeklammert und schreibt den Schülern eine Eigenschaft zu, als wären sie leblose Gegenstände, die zu anderen leblosen Gegenständen eine äußerliche Beziehung unterhalten. Die Situation der Lehre ist immer eine ganze; der Lehrer gehört dazu. Sicherlich bringen die Schüler etwas mit, ein Verhalten, Gewohnheiten usw. Doch in der praktischen Lehrsituation ist ein Verhalten der Schüler nie ohne das Verhalten des Lehrers verständlich. Er gehört dazu. Man kann also sagen: Dies, daß die Schüler kein Interesse zeigen (was immer das sein mag), ist vielleicht das Resultat der Wechselbeziehung zwischen Lehrer und Schüler, des „Systems“ Lehrer-Schüler.

Zweitens müssen wir fragen: Woran genau erkennen wir, daß die Schüler kein Interesse zeigen? Was nehmen wir tatsächlich wahr? Sehen wir z. B. abgewendete Blicke? Unterhalten sich die Schüler? Kritzeln sie auf einem Stück Papier herum? Fühlen wir uns unwohl und deuten dieses Gefühl als Desinteresse? Das Wort „zeigen“ läßt im erwähnten Satz in einer kühnen Abstraktion viele Aspekte der Situation aus. Etwas zeigt sich immer für jemand. Und dieser Jemand ist der Lehrer, der diesen Satz denkt. Das, wie und in welchem Denkmodell der Lehrer seine Schüler interpretiert, das erlaubt überhaupt erst so etwas wie ein „zeigen“. Man kann sagen: Wenn jemand mir nicht zuhört und auf einem Zettel herumkritzelt, dann „zeigt“ er kein Interesse. Man kann aber auch sagen: Hört er tatsächlich nicht zu? Ist das Kritzeln vielleicht der Ausdruck dafür, daß er eigentlich etwas sagen möchte: Etwa, daß der vorgetragene Gedanke unverständlich, langweilig usw. ist? Oder aber der Schüler will ein kleines Machtspiel spielen und erproben, wie der Lehrer auf offen demonstrierte Beschäftigung mit etwas anderem reagiert? Die Achtsamkeit auf dieses Verhalten erfordert in jedem Fall eine völlig andere Antwort. (Und, ich beeile mich das hinzuzufügen, man kann natürlich danebenliegen in der Deutung dessen, was jemand eigentlich „signalisiert“. Doch wenn man nicht immer wieder seine eigenen Hypothesen überprüft, wird man auch nicht seine situative Beobachtungsfähigkeit verbessern.) Kurz gesagt: Der „Erfolg“ des Lehrens ist immer die Reaktion der Schüler, die man faktisch, in all ihren Aspekten, erhält, und das ist die Arbeitsgrundlage kreativen Lehrens.

Drittens - ich bleibe immer noch bei dem erwähnten Beispiel - sollten wir die Frage stellen, was sich eigentlich hinter Abstraktionen wie dem Begriff „Thema“ verbirgt. Betrachten wir diesen Begriff, so scheint die Frage sehr leicht beantwortbar: Thema ist eben jener Stoff, der für eine Unterrichtsstunde vorgesehen wurde: die Eigenschaften des Benzolrings, die Bedeutung des Dativs, die Ermittlung des Sozialprodukts oder die unlösbare Gleichung x2 + 1 = 0. Ist also das „Thema“ nicht klar? Und ist damit nicht auch eindeutig definiert, was Interesse für ein Thema bedeuten kann? Ich möchte diese Fragen verneinen, freilich nicht ohne Begründung. Wenn wir die Situation des Lehrens betrachten, in der diese Fragen behandelt werden sollen, dann ist es ein sehr nützlicher Schritt, Eigenschaften in Prozesse umzuwandeln. Die Frage sollte nicht lauten: Was muß ich tun, um das „Interesse“ eines Schülers an der Lösung der Gleichung x2 + 1 = 0 zu wecken? Es ist hilfreicher zu fragen: Welche Fertigkeit möchte ich am Ende des Unterrichts bei den Schülern beobachten können? Dem Lehrer ist das Thema „klar“; er hat es vielfach durchdacht und behandelt, und er kennt Lösungsstrategien bei Schwierigkeiten. „Thema“ ist also die Fähigkeit, auf Wunsch, wenn es die Situation (z. B. in einer Klausur) erfordert, die notwendigen Denkschritte zu vollziehen, um eine Fertigkeit zu zeigen. Kurz gesagt: „Thema“ ist kein Gegenstand, sondern ein (zu erlernender) Prozeß, ein Bewegungsmuster. Bewegungsmuster sind situativ eingebettet, und es ist eben diese Einbettung, die Lernprozesse erlaubt. Wollen wir erreichen, daß Schüler nach dem Unterricht einen Stoff auswendig lernen? Oder, daß sie fähig sind, in sich selber Vorstellungen und Denkprozesse wachzurufen, die zur Lösung einer Aufgabe führen? Oder, daß sie eine bestimmte soziale Kompetenz zeigen? „Themen“ sind also immer Prozesse. Und die einfachste Art, Prozesse zu erlernen, besteht darin, sie nachzuahmen.

Viertens spielt - aus dem eben genannten Grund - die Fähigkeit des Lehrers eine wichtige Rolle, Prozesse so vorzuführen, daß sie auch nachgeahmt und erlernt werden können. Die Fixierung auf ein starres Resultat ist hierbei ebenso hinderlich wie ein mangelndes Bewußtsein der eigenen Lösungsstrategien. Wir tun und können vieles, wissen aber oft nicht genau, was wir eigentlich machen. Beispiel: Man muß sich darüber klar sein, daß zur Rechtschreibung die Visualisierung eines Wortes unabdingbar ist - niemand kann, auf den phonetischen Klang hörend, richtig schreiben, auch nicht in der neuen Rechtschreibung. Also ist es zweckmäßig, rechtschreibschwache Schüler anzuhalten, Wörter innerlich zu sehen und abzulesen. Das kann z.B. so gelingen, daß man sagt, der Schüler soll sich die Wörter auf einem Fernsehschirm oder in der Sprechblase in einem Comic vorstellen.

Nun ist „Nachahmung“ keine 1:1-Kopie von Verhalten. Jeder Schüler muß einen neu zu erlernenden Prozeß für sich selber adaptieren - darin liegt das kreative Moment des Lernens. Diese Adaption ist aber auch neu für den Lehrer, der immer wieder mit überraschenden Reaktionen der Schüler konfrontiert wird. Wir beobachten hier also eine doppelte Kreativität des Lehrens und Lernens. Die Achtsamkeit des Schülers ist fast völlig beansprucht vom gebotenen Inhalt; die Achtsamkeit des Lehrers, der bezüglich dieses Stoffes über genügend Fertigkeiten verfügt - die mehr oder minder unbewußt ablaufen können -, kann sich ganz auf die Wahrnehmungsprozesse der Schüler richten. Dadurch entsteht ein „Überschuß“, der für die Initiierung von Lernprozessen genutzt werden kann.

Wenn man z. B. durch den Lehrplan verpflichtet ist, etwas über die Bedeutung der deutschen Stahlproduktion vorzutragen, so sind damit mindestens drei  Lehrziele verknüpft. Einmal soll sicherlich ein gewisses „Allgemeinwissen“ vermittelt werden, das bei Bedarf abrufbar ist (die Abrufbarkeit wird in Prüfungen simuliert). Ebenso wichtig ist aber die im­plizite Botschaft, daß Informationen des „Allgemeinwissens“ persönlich relevant werden können. Diese Erkenntnis läßt sich am sinnvollsten dadurch stimulieren, daß man an den Erfahrungen dieser Situation - der Lehrsituation - anknüpft. Und wenn man „Achtsamkeits-Kapazität“ frei hat, weil man weiß, worauf eine Überlegung hinausläuft, kann man mit Metaphern und Geschichten arbeiten oder Fragen verwenden, die situativ ansetzen, in ihrer Konsequenz aber zum Thema führen. Ein Beispiel, nur um diesen Gedanken zu illustrieren. Man stellt die Frage: „Habt ihr den Rost unten an den Fahrradständern bemerkt?“ - „Warum rostet dieser Fahrradständer eigentlich, während der Stahlgriff unten an der Eingangstür schön silbern glänzt?“ - „Könnte man diesen Griff auch heimlich rosten lassen?“ - usw. Hier setzen wir an einer unmittelbar gegebenen Erfahrung an und nutzen vielleicht zugleich die Lust, etwas „Verbotenes“ tun oder denken zu dürfen. Dadurch wird dann das Verhindern des Rostens als Aufgabe einleuchtend und man kann ein paar Zahlen nennen, wieviel Millionen Tonnen jährlich in Deutsch­land an Maschinen, Bauteilen usw. einfach verrosten und ersetzt werden müssen. Die Produktion von rostfreiem Stahl wird damit zu einem Kampf gegen einen erfahrbaren Gegner, setzt also an einer Fertigkeit und situativen Erfahrung an. Dieses (sicher etwas konstruierte) Beispiel kann auch als dritten Aspekt zeigen, daß man mit dem scheinbar „trockenen“ Lehrziel „Bedeutung der Stahlproduktion in Deutsch­land“ zugleich den Sinn von Lernen überhaupt vermittelt - die eigentliche Botschaft allen Lernens: „Lernen ist eigentlich einfach, macht oft sogar Spaß und hat etwas mit mir, mit meiner Erfahrung zu tun.“

Damit komme ich fünftens zu einem sehr wichtigen Punkt, der sich ganz zwanglos ergibt, wenn man den Blick von „Themen“ und „Interessen“ an Themen auf die ganze Situation wendet. Schüler benutzen nicht nur die angebotenen Information zum Thema (Texte, Abbildungen, Tafelbilder usw.), sie reagieren vor allem auf metasprachliche Signale der Situation. Wer ein „Thema“ - ich übertreibe jetzt natürlich - mit der gelangweilten Haltung und Miene des „interessiert doch niemand, mich auch nicht“ vorträgt, der signalisiert durch seine Sprechdynamik, seine Körperhaltung, seine Bewegungen usw. auch diese „Glaubensüberzeugung“. Und das Erste, was Schüler dann erlernen, ist diese Farbe der Situation, in der das Thema präsentiert wird. Wenn man also Lernprozesse anregen möchte, ist es wichtig, die Lust am Lernen auch zu kommunizieren. Nun ist es gewiß nicht einfach, immer in Hochform zu sein. Aber durch die Umlenkung der Achtsamkeit auf immer wieder neue Aspekte der Situation entsteht für jeden Lehrenden eine wache und sehr oft inspirierende Stimmung. Neu sind gewiß nicht die Routinen des zu vermittelnden Themas, neu ist aber in jeder Stunde die situative Einbettung, die Reaktionen der Schüler auf Wörter, Bilder usw. Das vorgestellte situative Modell, in der Anwendung einmal selbst zu einer Gewohnheit geworden, macht das „Abtasten“ aller Aspekte einer Situation gleichsam zu einer selbstverständlichen Praxis des Lehrens, während - sagen wir eine Zahl - 30% der Achtsamkeit auf den eigentlichen Lehrstoff gerichtet sind. Dadurch können wir auf kleine Veränderungen der Schüleraufmerksamkeit reagieren, bevor sie auf dunklen Wegen der Ansteckung andere erreichen und die Gesamtsituation und ihre Stimmung verwandeln. Aus eigener Erfahrung darf ich sagen: Dadurch wird auch das „langweiligste Thema“ immer wieder zu einem Abenteuer und das Unterrichten kann wirklich Spaß machen.

 

Wenn wir, nach diesen skizzierten Überlegungen, den Beispielsatz: „Die Schüler zeigen an diesem Thema einfach kein Interesse“ nochmals betrachten, zeigt sich, was wir eigentlich mit uns selber in der Lehre anstellen: Auch unser Interesse, unsere Motivation ist nicht ein „Sein“, sondern ein „Prozeß“. Wer kein Interesse daran hat, ein Thema zu unterrichten, weil die Schüler kein Interesse daran haben, bewegt sich scheinbar in einer unauflösbaren Feedback-Schleife. Solche Schleifen sind aber auflösbar, wenn man die Frage stellt: Worin bewegt sich eigentlich dieser Teufelskreis? Meine Antwort wird nun nicht mehr erstaunen: In den fünf Modalitäten jeder Situation. Wer Desinteresse signalisiert, bekommt Desinteresse als Verhaltensantwort, wer Neugier auf offene Stellen in der Wahrnehmung, Neugier darauf, was andere tun, wie sie reagieren usw. signalisiert, der bekommt Neugier als Verhaltensantwort - und diese Neugier ist eine gute Basis für kreativen Unterricht.

Wenn wir uns selbst durch Sätze wie im erwähnten Beispiel negativ instruieren, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die Verhaltensantworten im Unterricht genau der Verhaltenserwartung entsprechen. Der innere Dialog, der dem Unterricht vorausgeht und ihn - schlimmstenfalls - begleitet, ist durchsetzt mit unbewußten Reaktions- und Bewegungsmustern. Vor allem haben (innerlich dialogisierte) Abstraktionen wie „Thema“ oder „Interesse“ eine betäubende Wirkung: Sie lenken die Achtsamkeit ab von der äußeren Wahrnehmung auf innere Denkprozesse und Gefühle. Und wir sollten die Fähigkeit der Schüler nicht unterschätzen, das - auch ohne Wissen darüber - genau beobachten zu können. „Interesse“ ist eine Vielfalt situativer Prozesse, ebenso verbergen Kategorien wie „Motivation“, „Stoff“, „Unterrichtseinheit“ usw. mehr als sie erhellen.

Wir sollten deshalb immer fragen: Wie genau zeigt sich im Verhalten, im Sprechen, in den Bewegungen so etwas wie „Interesse“ oder „Motivation“? Ist es der Blickkontakt mit einem Schüler? Die Mimik, die auf meine gesprochenen Sätze antwortet? Sind es die gestellten Fragen? Ebenso sollten wir genau klären, was eigentlich ein „Lehrziel“ ist. Ist es die Fertigkeit, Sätze wie Gedichte auswendig hersagen zu können? Selbst Sätze mit bestimmten Schlüsselbegriffen richtig bilden zu können? Neuartige Situationen mit erlernten Begriffen beschreiben zu können? Fragen und Aufgaben mit bestimmten Fertigkeiten und Handlungsstrategien beantworten zu können?

Und wenn diese Fragen beantwortet sind - auf die es immer nur eine situative Antwort geben kann, keine Antwort ist allgemein „falsch“ oder „richtig“ -, können wir das Ziel etwas weiter stecken und sagen: Das Erlernen von Fertigkeiten ist wichtig, aber nur ein Aspekt. Ebenso wichtig ist das Erlernen des Lernens. Wenn wir es schaffen, die abgelenkte, diffuse Achtsamkeit in eine Neugier, eine Frage usw. bei den Schülern umzulenken, und wenn wir es weiterhin schaffen, diese Fragen durch Lösungsstrategien, durch Lösungsprozesse zu beantworten, dann erlernen Schüler zugleich eine ganz andere „Botschaft“: Achtsam und neugierig auf Lösungen zu sein, ist eine befriedigende Erfahrung. Man kann damit Probleme lösen. Dieses Lernen auf einer zweiten Ebene ist vielleicht noch wichtiger als das unmittelbare Lernen von Fertigkeiten. Hier erfüllt der Lehrer, die Lehrerin eine unersetzbare Aufgabe, denn dieses Lernen ist immer situativ, immer wieder neu und fähig, die Achtsamkeit beider Seiten eines Unterrichtsprozesses aufzuwecken.

 

Schlußbemerkung

 

Das eigentliche Ziel des Lehrens und Lernens scheint mir zu sein, den Eigenwert des Unterrichts zu begreifen. Ich habe dazu hier den fast zum Schlagwort gewordenen Begriff „Kreativität“ verwendet. Wenn ein Lehrer kreativen Unterricht - im erläuterten Sinn - als achtsame und deshalb auch befriedigende Verhaltensweise betrachten kann, dann kommuniziert er diese seine Haltung an die Schüler, weckt in ihnen auch die Lust am Lernen. Dieses implizite, vielleicht zunächst nur dem Lehrer bewußte Lernziel entkoppelt den Unterricht von äußeren Funktionalisierungen. Wenn wir in den Alltag blicken, sehen wir viele Menschen, die unaufhörlich damit beschäftigt sind, etwas vorzubereiten, Mittel für einen später zu realisierenden Zweck zu beschaffen. Und wenn endlich die Zeit der Ruhe gekommen ist, bleibt man in Gedanken bei diesen Mitteln, zum Genießen erreichter Ziele gelangt man eher selten.

So wird auch vom Unterricht, von der Schule als einer „Voraussetzung“, als „Mittel zum Zweck“, als „Vorprodukt der Wirtschaft“ usw. gesprochen. Lernen gilt als etwas, das man „hinter sich bringen muß oder möchte“. Ich denke, daß diese Weise, die Schule, die Ausbildung zu betrachten, für sehr viel Frustration, unzufriedene Lehrer und Schüler, aber auch für wenig effizientes Lernen verantwortlich ist. Das kreative Lernen ist in sich selber eine erfüllendes, ein befriedigendes Erlebnis. Und obendrein ermöglicht es, auf veränderte Situationen flexibel reagieren zu können. Die Schule darf nicht ein Mittel zum Zweck sein. Es ist ein Teil des Lebens (für uns Lehrende sogar fast das ganze Leben), der in sich selber seinen Wert besitzt, ganz gleichgültig, welche Ausstrahlung von ihm auf das übrige Leben ausgeht.

Die Schule ist ein Ort, an dem Menschen erlernen, wie sie sich selber „gestalten“ können, wie sie selber das Lernen lernen können - oder sollte ich vorsichtig sagen: Die Schule könnte solch ein Ort sein? Ich will niemandem vorschreiben müssen, welche Erfahrungen er machen soll. Aber ich wünsche mir, daß jeder die Fähigkeit erlernt, möglichst vielfältige Erfahrungen machen zu können. Erfahrungen machen - das heißt eigentlich kreatives Lernen. Die Schule ist nur ein Beispiel dafür, allerdings ein Musterbeispiel, ein Vorbild für andere Situationen. Wir erlernen Bedeutungen, sind also nicht einfach ein Datenträger für externe Informationen. Bedeutungen sind immer situativ erlebt; sie sind nicht zu trennen von der Situation des Erlernens - auch nicht „abstrakte Bedeutungen“. Deshalb heißt Lernen als Erlernen von Erfahrung, von Bedeutung auch schlicht, das Leben zu erlernen. Und als Lehrer sind wir in der wunderbaren Position, die Tür dafür aufmachen zu dürfen, jedes Jahr neu. Der Lehrer öffnet die Türe, eintreten muß der Schüler selber, sagt ein chinesisches Sprichwort. Eigentlich ist das doch ein wunderbarer Beruf: Mit dem Finger in die offene Weite des Lebens zeigen zu können.

 



[1] Vortrag beim Seminar „Wissen und kreatives Denken“, 23.-24.4.1999 in Herrsching am Ammersee, Arbeitskreis Gymnasium und Wirtschaft e.V.

[2] Vgl. K.-H. Brodbeck, Das Gehirn ist kein Computer. Neuere Erkenntnisse der Neurowissenschaft; in: praxis-perspektiven Band 2 (1997), S. 53-60; der Text ist auch online verfügbar, unter der Internet-Adresse:

 

[3] Vgl. K.-H. Brodbeck, Entscheidung zur Kreativität, Darmstadt 1995, vor allem Kapitel 2 und 6 (das Buch erscheint im September 1999 in zweiter Auflage als Paperback); ders., Kreativität als persönlicher Erfolgsfaktor; in: Arbeitskreis Gymnasium und Wirtschaft (Hrsg.), Gute Einfälle machen Schule ‑ Wissen und kreatives Denken, Heft 6, München 1988, S. 5‑24.

[4] Im NLP wurden hierzu zahlreiche weitere „Zugangshinweise“ in der Kommunikation entdeckt, die für den Unterricht hilfreich sein können; vgl. hierzu als sehr informative Einführung W. Walker, Abenteuer Kommunikation, Stuttgart 1998 für zahlreiche weitere Hinweise.